Heute vor 70 Jahren

Günter Kunert

Über einige Davongekommene

Als der Mensch
unter den Trümmern
seines
bombardierten Hauses
hervorgezogen wurde,
schüttelte er sich
und sagte:
Nie wieder!

Jedenfalls nicht gleich.

Dieses Gedicht des blutjungen Dichters Günter Kunert ist sein Dauerbrenner. So etwas nervt gelegentlich, wenn man das Gefühl hat, immer auf ein Gedicht reduziert zu werden. Wahrscheinlich verdient er auch jedes Jahr Tantiemen in einstelliger Höhe für die Aufnahme in Schulbücher. Andererseits gelingt nicht jedem Anfänger ein künftiger Klassiker und ein Evergreen.

So kam es

Axel Reitel

So kam es

Der Kummer verschlief
Der Strom war sanft
Deine Haut war eben
Deine Sprache war gut
Nichts hielt uns fest
Fest war uns alles
Das Licht an uns war –

Die neueste Ausgabe von Glossen veröffentlicht Gedichte von Axel Reitel.

Außerdem u.a.

Gabriele Eckart, Helga M. Novak in Island
Frederick A. Lubich, Angie’s “Starry, Starry Nights” – Code Name “Maybe, Maybe Not” oder “Denk ich an Deutschland in der Nacht”: Eine muttermythische Phantasmagorie
Utz Rachowski, ANDALUSIEN – Zwei Gedichte stampfenden Fußes

Essay

Frederick A. Lubich, „Wo ich bin, ist Deutschland”. Thomas Mann als transatlantischer Emigrant par excellence oder Hundert Jahre Poschinger Straße 1 (1914-2014)

Gespräch

Michael Augustin und Walter Weber im Gespräch mit Günter Kunert – “Dichtung – Einfälle” (mp3)

Der Berliner Mauer Choral

Textkette 1.7.4.4.1.1.1.1.1.2.1.3.2.1.1 Jossif Brodskij (Joseph Brodsky) The Berlin Wall Tune

Joseph Brodsky
Der Berliner Mauer Choral
(The Berlin Wall Tune)

ÜBERTRAGEN VON AXEL REITEL

Zum 85. Geburtstag für Günter Kunert

LYRIKBIBLIOTHEK VON BABEL

Erstfassung: http://textkette.com/2014/05/17/the-berlin-wall-tune/
Übersetzung:©Axel Reitel, 1.Fassung 2014/18/4; 2. Fassung 2014/28/5.
Vorbemerkung: ©Axel Reitel, 2014/19/5.

Joseph Brodsky
Der Berliner Mauer Choral
(The New York Tune)

[…] von der es heißt: sie sei
unser Lehrer
in diesem Zustand
erst.

Günter Kunert, Geschichte II*

Vorbemerkung zur Übersetzung

Das Gedicht „The Berlin Wall Tune“ von Joseph Brodsky schrieb ich mir aus dem Band „To Urania“ in meine China-Kladde ab. Ich befand mich im Buchladen „Barnes & Nobles“, Court Street, Brooklyn-New York. Es war der 10. Januar 2001, ein klarer, kalter Wintertag. Kladde und Gedicht fand ich an meinem Geburtstag im April 2014 in meiner Wohnung wieder. In der Kladde steht auch der Preis des Bandes: es waren 28 Dollar. Ich erinnere mich, wie ich zögerte: schließlich war ich, auch um Kosten zu sparen, per pedes von meinem Hotel, 401 Seventh Avenue at 33rd Street, New York City 10001, Manhattan, über den Battery Park rüber zu den Twin Towers gequert, weiter zur Brooklyn Bridge, stets die Nikon dabei, – bald im Objektiv Ellis Island, den Hudson, Miss Liberty, darüber einen Winterhimmel in Pastellblau, eingewoben gelbe, rote Sphärentöne – um endlich im berühmtesten Buchladen Brooklyns als geprüfte Leseratte einen treasure aufzustöbern. Der Band „To Urania“ war dieser Schatz. Allerdings glaubte ich zu wissen, dass ich die übrigen Gedichte in „To Urania“** bereits kannte, deshalb kaufte ich mir ein anderes, auch etwas preiswerteres Taschenbuch: „Teachers & Writers Guide to Walt Whitman“ vom „Teachers & Writers Collaborative New York „. Walt Whitmans „Grashalme“ übten einst eine ähnliche elektrifizierende Wirkung aus mit ihrem Übergesang der Emanzipation von allen inneren-äußeren Feinden zu einer entschleierten, unverschlossenen, geistigen Freiheit von „Raum und Zeit“***. Genauso vertraut, wie mit diesem meinem Thema, das mich in meinem frühen Leben in der zweiten deutschen Diktatur beschäftigte, war ich längst auch mit Brodskys Generalthema, dem Thema des Exils in seinen amorph zerfließenden Formen, – Exil des Geistes, Exil des Körpers usw.- vertraut und nicht weniger elektrifiziert, als ich an einem Schöneberger Frühjahrestag 1983 zum ersten Mal seine Gedichtsammlung „Einem alten Architekten in Rom“ aufschlug: war mir doch durch meine eigenen Gefängnisaufenthalte und den Freikauf durch die Bundesrepublik gerade dieses Thema sozusagen strafkolonistisch ins Herz tätowiert. Darüber zu schreiben setzte sich wie ein Test nach dem anderen fort im Umgang mit der gewonnen Freiheit, auch unzensierter Darstellung dessen, was war: eine künstlerische Prozedur, die sowohl der Wahrheit bedarf und doch an ein weiteres Gesetz, an das Gesetz der „Einsicht in die künstlerische Notwendigkeit“ gebunden ist, jedenfalls sobald der Motor der Ausgestaltung ein künstlerischer Anspruch ist. Diese von Sophokles intendierte Notwendigkeit soll den Künstler letzten Endes vor allem davon abhalten, „des Guten zu viel zu tun“**** Diese Notwendigkeit begleitete mich, – nun abschließend – bei meiner Übersetzung Zeile um Zeile.

Und hier das Gedicht:

The Berlin Wall Tune
by Joseph Brodsky
for Peter Viereck

Der Berliner Mauer Choral
von Joseph Brodsky
für Peter Viereck
2. Fassung

This is the house destroyed by Jack.
This is the spot where the rumpled buck
stops, and where Hans gets killed.
This is the wall that Ivan built.

[1.]
Dies ist das Haus, zerstört von Jack,
Dies ist der Ort, wo Dollars sind Dreck
wo Hans den Tod fand, wer immer abhaut
Dies ist die Mauer, die Ivan gebaut.

This is the wall that Ivan built.
Yet trying to quell his sense of guilt,
he built it with modest light-gray concrete,
and the booby-traps look discreet.

[2.]
Dies ist die Mauer, die Ivan gebaut.
Hoffend dass sein Sinn für Schuld abflaut,
baute er sie aus lichtgrauem Stein,
und über Minen zog er Gras zum Schein.

Under this wall that a) bores, b) scares
barbed wire meshes lie flat like skeins
of your granny’s darnings (her chair still rocks!)
But the voltage’s too high for socks.

[3.]
Unter dieser Mauer die a) nervtb) schreckt
ragen Stacheldrahtmaschen gestreckt wie Fäden
von Großmutters Wollzeug (ihr Schaukelstuhl kann rocken!)
Doch die Spannung ist zu hoch für Socken.

Beyond this wall throbs a local flag
against whose yellow, red, and black
Compass and Hammer proclaim the true
masonic dream came through.

[4.]
Über der Mauer weht eine Flagge und wie
gegen das Gelb, Rot und Schwarz vis-á-vis
Hammer und Zirkel sagen was ist:
dass des Freimaurers Traum wahr geworden ist.

The Vopos patiently in their nest
through binoculars scan the West
and the East; and they like both views
apparently devoid of Jews.

[5.]
Die Vopos, geduldig in ihrem Nest,
im Fernglas die Stadt Berlin (West)
und Ostberlin; ähneln sich wie zwei Buden,
beide sind scheinbar frei von Juden.

Those who are seen here, thought of, felt,
were driven away by the sense of Gold
or by a stronger Marxist urge.
The wall won’t let them merge.

[6.]
Die hier zu sehen sind, gedacht, geholt,
sind getrieben von jenem Sinn für Gold
oder von stark marxistischem Gebühren
Die Mauer will sie nicht zusammen führen.

Come to this wall if you hate your place
and face a sample of cosmic space
where no life-forms can exist at all
and objects only fall.

[7.]
Komm zur Mauer, wenn du dein Leben hasst,
sei Zeuge, wen das Universum schasst,
wie feindlich es sich mit dem Leben anlegt
und nur Objekte zum Fallen bewegt.

Come to this scornful of peace and war
petrified version of either/or
meandering through these bleak parts which act
like a mirror that’s cracked.

[8.]
Komm zu diesem Hohn von Krieg und Frieden
betonierte Version von Entweder / Oder hienieden
mäandert durch dies düstere Werk und wirkt
wie Welt, die ein zerbrochener Spiegel birgt.

Sad is the day here. In the night
searchlights illuminate the blight
making sure that if someone screams,
it’s not due to bad dreams.

[9.]
Traurig ist der Tag hier. In der Nacht
beleuchten Scheinwerfer, wer sich flüchtig macht
und sorgen, dass, wenn jemand schreit,
kein Traum es ist, sondern Wirklichkeit.

For dreams here aren’t bad: just wet with blood
of one of your likes who left his pad
to ramble here; and in his head
dreams are replaced by lead.

[10.]
Für Träume ist’s schlecht hier: nur Dämpfer mit Blut
für deines gleichen, verlässt sein Gut
hier zu wandern; und in den Kopf gesetzt
Träume werden durch Blei ersetzt.

Given that, it’s only Time
who has guts enough to commit the crime
of passing this place back and forth on foot:
at pendulums they don’t shoot.

[11.]
Oder dies, ‘s wäre ‘ne mutige Zeit
das heißt der Verbrechen Endlichkeit
durch ein Gewimmel, vor, zurück, aufschließend:
auf dies Pendeln würden sie nicht schießen.

That’s why this site will see many moons
while couples lie in their beds like spoons,
while the rich are wondering what they wish
and single girls eat fish.

[12.]
Drum wird diese Seite noch viele Monde löffeln,
während Paare in Betten liegen wie Löffel,
während sich Reiche ihre Wünsche vorplappern.
und Single-Mädchen an Fischen knabbern.

Come to this wall that beats other walls:
Roman, Chinese, whose worn-down, false
molars envy steel fangs that flash
scrubbed of thy neighbor’s flesh.

[13.]
Komm zu dieser Mauer, die andre Mauern schlägt:
Römische, Chinesische, deren Zähne, ungepflegt,
neiden dem Zahn aus Stahl die Kraft,
die das Fleisch aus deines Nachbarn Körper rafft.

A bird may twitter a better song.
But should you consider abortion wrong
(or that the quacks ask too high a fee),
Come to this wall, and see.

[14.]
Ein Vogel mag ein besseres Lied anstimmen.
Doch kannst du Abtreibung nichts abgewinnen
(und gingst zu Engelmachern nie),*****
Komm zu dieser Mauer – und sieh.

Noch ein Wort zur Übersetzung:

Ich schickte eine 1. Fassung meiner lieben Freundin, Judith Judy Schubert. Judy ist Sopranistin, gebürtige US-Amerikanerin und lehrte und arbeitete u.a. in New York. Ich lernte sie Ende der 1990er Jahre in Plauen kennen. Ich war 1990, – im Jahr der sanften Revolution – in meine Geburtsstadt zurückgekehrt. Ich arbeitete für verschiedene Zeitungen, veröffentlichte wenige Bücher. Am Ende des Jahrzehnts suchte ich für die Aufnahme eines Musikstücks nach einer Sopranistin. Es handelte sich um die Vertonung eines ergreifenden Gedichtes aus dem KZ Theresienstadt. Die Autorin war die in jener Zeit 16jährige Dagmar Hilarova. Mit Hilfe des versierten Gitarristen Jörg Hoffmann entstand eine sechsseitige Partitur für Gitarre, Oboe und Gesang, – autorisiert gewidmet Elisabeth und Reiner Kunze – doch sagten nach der Fertigstellung zwei Sängerinnen ab. Ich war verzweifelt, womöglich war ich längst gescheitert und gestand es mir nicht zu. Im Sommer 1999, wenn ich mich richtig erinnere, drückte mir, um mich ein wenig aufzumuntern, der damalige Intendant des Vogtlandtheaters Plauen, Dieter Roth, eine Karte für Giacomo Puccinis Oper Turandot in die Hand: in dieser Rolle sah ich zum ersten Mal Judy und lauschte begeistert ihrem wundervollen Gesang. Ich wusste, dass sie die perfekte Stimme für das vertonte Gedicht ist: was aber tun, wenn ihr die Melodie ebenfalls zu war? Ich habe vergessen, wer uns wo kurze Zeit darauf einander vorstellte. Wir kamen ins Gespräch, dabei erzählte ich auch von der Partitur, die sie sich sofort erbat; und zu meiner Riesenfreude gefiel ihr die Lektüre, die sie zu Tränen gerührt habe. Die Aufnahme fand im Februar 2000 in einem modernen Tonstudio nahe Hof/Saale statt. Sie wurd das

Herzstück der CD „ohne anzuklopfen“ (15. 5. 2000). Vierzehn Jahre ist das her: in dieser Zeit erlitt unsere Freundschaft keinen Abbruch. Ich hatte also keinen Grund zu zögern, Judy die ersten Fassung der Übersetzung zu mailen, und nur wenige Tage darauf erfolgte auch prompt ihre Antwort.

Axel, ich habe einiges korrigiert. Allerdings weiß ich, daß durch das Reimen einiges „frei“ übersetzt werden muß. Da waren nur ein paar Stellen, wo vielleicht der Sinn falsch war. Du kannst lesen, was ich korrigiert habe und reflektieren, ob vielleicht etwas falsch ist. Allerdings fiel mir nichts poetisch ein, wie es sich reimen könnte. Es wurde von Dir hervorragend übersetzt! Liebe Grüße! Judy

Jene Stellen sind im Wortlaut unten stehend nachzulesen. Ich habe versucht, die (zum Glück) erhaltenen Korrekturen so gut es ging diesem irren Berliner Mauer Chorus anzupassen.

3. Strophe
Unter dieser Mauer die a) langweilt b) schreckt
… von Großmutters Wollzeug (ihr Schaukelstuhl kann noch rocken!)
6. Strophe
Die hier zu sehen sind, gedacht, gefühlt,
wurden gejagt von jenem Sinn für Gold
10. Strophe
Weil Träume sind nicht hier schlecht: nur feucht mit Blut
…der seine Bleibe verlassen hat

11. Strophe
Das vorgegeben, es ist nur Die Zeit,
die genug Mut hat, die Verbrechen zu begehen
hin und hergehen entlang dieses Orts zur Fuß
beim Pendeln schießen sie nicht.
14. Strophe
Aber solltest Du Abtreibung als falsch betrachten,
oder dass die Quacksalber zu hohe Gebühren verlangen.

Axel R. Reitel Berlin, Donnerstag 29. Mai 2014

*) Günter Kunert, Gedichte, dtv, Oktober 1982, S. 125. Original in: Unterwegs nach Utopia.

**) Urania, Muse der Astronomie, die weiteren acht sind Klio, Muse der Geschichtsschreibung; Melpomene, die Muse der Tragödie; Terpsichore, Muse für Chorlyrik und Tanz; Thalia, Muse der Komödie; Euterpe, Muse der Lyrik und des Flötenspiels; Erato, Muse der Liebesdichtung; Polyhymnia, Muse des Gesangs mit der Leier; sowie Kalliope, Muse der epischen Dichtung, der Rhetorik, der Philosophie und der Wissenschaft.

***) W.W. Grashalme, Gesang von mir selbst, 33. Kapitel.

****) Sophokles, Werke , Berlin 1982, S. V.

*****) EngelmacherUmgangssprachlicher Ausdruck für Kurpfuscher, das waren fernab jeglicher ärztlichen Kompetenz Schwangerschaftsabbrüche durchführende Privatiers. Der russische Regisseur Sergej Eisensteins fing dieses Thema auf in seinem Dokumentarfilm aus dem Jahr 1929 auf, Frauennot-Frauenglück“. Dieser Aufklärungsfilm, – und Befürwortung eines Abbruchs unter medizinischer Aufsicht – wurde gedreht im Universitätsklinikum Zürich.

Was soll er bekennen?

Sich zu seiner Sache, der Lyrik, erklären zu müssen, setzt jeden Lyriker in ein unterschiedliches Maß von Verlegenheit. Was soll er behaupten oder bekennen? Daß die Erscheinungsweise seiner Worte semantisch bestimmt ist? Eine Banalität. Oder daß er fest und innig an irgend etwas glaubt, zum Beispiel an ein gemächliches Fortschreiten der Menschheit ins Ungemütliche; an Das Leben (was das auch sein mag); an die Musen (wenn sie ihn lieben);  an Götter (wenn sie ihn nur in Ruhe lassen) oder an die Vorurteile seiner Epoche wie alle Leute?

(Günter Kunert, in: Diesseits des Erinnerns. Aufsätze. München: dtv 1985, S. 85.)

Film, verkehrt eingespannt

Von Günter Kunert

(Textkette Freistil)

Film, verkehrt eingespannt

Als ich erwachte,
Erwachte ich im atemlosen Schwarz
Der Kiste. Ich hörte: Die Erde tat sich
Auf zu meinen Häupten. Erdschollen
Flogen flatternd zur Schaufel zurück.
Die teure Schachtel mit mir, dem teuren
Verblichenen, stieg schnell empor.
Der Deckel klappte hoch, und ich
Erhob mich und fühlte gleich: Drei
Geschosse fuhren aus meiner Brust
In die Gewehre der Soldaten, die
Abmarschierten, schnappend
Aus der Luft ein Lied
In ruhig festem Tritt
Rückwärts.

(aus: Verkündigung des Wetters, 1966)