Zwei meiner Lieblingsgedichte

Textkette Freistil:

Zwei meiner Lieblingsgedichte wollte ich schon immer einmal posten. Unter was für einer Rubrik? „Sprachzauber“? Es ist ein bisschen, als führe einer einem einen Zaubertrick vor, und man kommt und kommt nicht dahinter, wie das gemacht ist. Brentanos Gedicht ist zutiefst pessimistisch, und dennoch müsste – so will mir scheinen – jeder Surrealist neidisch sein über diese Bilder, und Verlaine müsste neidisch sein über diese Musik. Das zweite Gedicht von Morgenstern scheint ein einfaches und sogar leicht ironisiertes Wiegenlied. Aber irgendetwas unterscheidet diesen Text von anderen Wiegenliedern. Fragt mich nicht, was – ich kam noch nicht hinter den „Witz“ der Sache. Aber wenn ich den Trick nicht durchschaue, werde ich wohl doch an den Zauber der Dichtung glauben müssen!

CLEMENS BRENTANO
„Wenn der lahme Weber träumt“

Wenn der lahme Weber träumt, er webe,
Träumt die kranke Lerche auch, sie schwebe,
Träumt die stumme Nachtigall, sie singe,
Daß das Herz des Widerhalls zerspringe,
Träumt das blinde Huhn, es zähl‘ die Kerne,
Und der drei je zählte kaum, die Sterne,
Träumt das starre Erz, gar linde tau‘ es,
Und das Eisenherz, ein Kind vertrau‘ es,
Träumt die taube Nüchternheit, sie lausche,
Wie der Traube Schüchternheit berausche;
Kömmt dann Wahrheit mutternackt gelaufen,
Führt der hellen Töne Glanzgefunkel
Und der grellen Lichter Tanz durchs Dunkel,
Rennt den Traum sie schmerzlich übern Haufen,
Horch! die Fackel lacht, horch! Schmerz-Schalmeien
Der erwachten Nacht ins Herz all schreien;
Weh, ohn Opfer gehn die süßen Wunder,
Gehn die armen Herzen einsam unter!

CHRISTIAN MORGENSTERN
„Träum, Kindlein, träum“

Träum, Kindlein, träum!
Im Garten stehn zwei Bäum‘.

Der eine, der trägt Sternlein,
der andre Mondenhörnlein.

Da kommt der Wind der Nacht gebraust –
und schüttelt die beiden mit rauher Faust.

Das Mondenhörnleinbäumlein steht,
als wäre gar kein Wind, der weht.

Dem Sternenbäumlein aber, ach,
dem fallen zwei Sternlein in den Bach.

Da kommen zwei Fischlein munter –
und schlucken die Sternlein hinunter.

Und hätte es nicht sterngeschnuppt,
so wären sie nicht so schön geschuppt.

Träum, Kindlein, träum,
im Garten stehn zwei Bäum…

Der eine, der trägt Sternlein,
der andre Mondenhörnlein…

Träum, Kindlein, träum…