Der Revoluzzer fühlt sich stark.

Erich Mühsam

Der Revoluzzer fühlt sich stark.
Der Reichen Vorschrift ist ihm Quark.
Er feiert stolz den ersten Mai.
(Doch fragt er erst die Polizei.)

6. April 1878 – 10. Juli 1934

Erich Mühsam, Dichter und Anarchist, war führend beteiligt an der anarchistischen Münchner Räterepublik, verbrachte danach mehrere Jahre in Festungshaft. Erich Mühsam kämpfte in der Weimarer Republik in der Roten Hilfe für die Freilassung politischer Gefangener. In der Nacht des Reichstagsbrandes wurde Erich Mühsam verhaftet. In der Nacht vom 9. zum 10. Juli 1934 wurde Erich Mühsam von der bayerischen SS-Wachmannschaft des KZ Oranienburg ermordet. / muehsam.de

Was soll er bekennen?

Sich zu seiner Sache, der Lyrik, erklären zu müssen, setzt jeden Lyriker in ein unterschiedliches Maß von Verlegenheit. Was soll er behaupten oder bekennen? Daß die Erscheinungsweise seiner Worte semantisch bestimmt ist? Eine Banalität. Oder daß er fest und innig an irgend etwas glaubt, zum Beispiel an ein gemächliches Fortschreiten der Menschheit ins Ungemütliche; an Das Leben (was das auch sein mag); an die Musen (wenn sie ihn lieben);  an Götter (wenn sie ihn nur in Ruhe lassen) oder an die Vorurteile seiner Epoche wie alle Leute?

(Günter Kunert, in: Diesseits des Erinnerns. Aufsätze. München: dtv 1985, S. 85.)

„Antisemitismus / Antibrüderlich“

Kempner des Tages

Friederike Kempner (1828-1904) kämpfte gegen die Dummheit und andere Übel der Zeit wie die Einzelhaft und den Krieg. Und hat unsere Sympathie in fast allem. Die zu ihrer Zeit wieder mal „neuste Influenza“ des Antisemitismus grassiert auch heute wieder (nur werden die Antisemiten heute böse wenn man sie Antisemiten nennt. Die Juden sollen nur aufhören, ihre Knaben zu verstümmeln und mit ihrem Geld die Welt zu beherrschen, sonst haben wir nichts gegen sie, sagen sie). Laßt euch von der Dichterin sagen was Sache ist. Die Psalmen und Sieben Gebote sind semitisch, die Sonntagsruhe auch. Und das Geld? Wenige ausgenommen darben die meisten. Wie gesagt, sie hat in allem unsre Sympathie. Außer vielleicht daß sie hin und wieder am Metrum etwas zurechteschnitzt. Das dumme Fremdwort „Antisemiten“ paßt nicht in den Trochäus? Abhilfe muß her!

7. Auflage 1895

8. Auflage 1895

Die letzte Zeile klemmt noch etwas. In der Ausgabe letzter Hand ist das korrigiert: „Heilet eure Leber, / Gehet nach Karlsbad!“ Hören wir die Dichterin:

Ewig lebt die Wahrheit,
Ewig lebt das Recht,
Menschlichkeit ist Klarheit,
Hassen, das ist schlecht!

Antisemitismus,
Aufgewühltes Meer,
Neueste Influenza,
Dauerst mich gar sehr;

Antisemitismus
Antibrüderlich,
Senk‘ die morsche Fahne,
Sie wird lächerlich.

Antisemitismus,
Wißt ihr, wie das klingt?
Als wenn unter Psalmen
Einen Fluch man singt;

Psalmen sind semitisch,
Zehn Gebote auch,
Schöne Sonntagsfeier
Ursemitischer Brauch;

Doch die Heuchler täuschen
Absichtlich die Welt,
Meinen nicht Semiten,
Meinen nur ihr Geld.

Wenn sie vieles hätten,
Gäben sie’s dem Zar,
Kauften sich Gatschina
Schön und wunderbar;

Säulen groß und mächtig,
Lapis Lazuli,
Dunkelblau und prächtig,
Sie erkaufen’s nie;

Ihren Reichtum aber,
Schlauheit ihn erdacht,
Haß und Zwietracht haben
Wahrheit nie gebracht;

Wen’ge ausgenommen,
Darben sie gar sehr,
Tausende verkümmern,
Eilen übers Meer.

Nahrung dort zu suchen,
Wo noch nichts gesäet,
Kehren gern zurücke,
Wo die Heimat stehet;

Heimat leere Städte,
Wo der Vater stand,
Eh‘ er Blut und Leben
Gab fürs Vaterland;

Ewig lebt die Wahrheit,
Ewig lebt das Recht,
Menschlichkeit ist Klarheit,
Hassen, das ist schlecht!

Anti-ti-semiten,
Höret meinen Rat,
Heilet eure Leber,
Gehet nach Karlsbad!

Bad- und Reisekosten
Zahlet sicher Der,
Der Euch sonst bezahlet,
Doch – ich weiß nicht Wer! –

Ich bin das Sonnenstäubchen, ich bin der Sonnenball. / Ums reine Licht hab‘ ich die Flamme liebgewonnen

1.6.8.2.1.3 Rumi: 2 Gedichte

Textkette

Achtung: bei dieser Post kein Freistil! Denn es gilt: wer dies likt, bekommt eine Dichterin oder einen Dichter zugegeteilt. Durch Kristian Kühn bekam ich zugeteilt (für das Liken von 1.6.8.2.1.: René Schickele: „Heilige Tiere“) –
Rumi! Und da mir die Wahl schwer fiel, wählte ich zwei Texte des Dichters.

Zitiert nach der von Edgar Groß und Elsa Hertzer 1979 herausgegebenen Werkausgabe Rückerts im Georg Olms- Verlag:

1.) Dschalal ad-Din Muhammad Rumi (übersetzt von Friedrich Rückert)
„Ich bin das Sonnenstäubchen, ich bin der Sonnenball“

Ich bin das Sonnenstäubchen, ich bin der Sonnenball.
Zum Stäubchen sag‘ ich: bleibet und zu der Sonn‘: entwall.
Ich bin der Morgenschimmer, ich bin der Abendhauch.
Ich bin des Haines Säuseln, des Meeres Wogenschwall.
Ich bin der Mast, das Steuer, der Steuermann, das Schiff;
Ich bin, woran es scheitert, die Klippe von Korall.
Ich bin der Vogelsteller, der Vogel und das Netz.
Ich bin das Bild, der Spiegel, der Hall und Wiederhall.
Ich bin der Baum des Lebens und drauf der Papagei;
Das Schweigen, der Gedanke, die Zunge und der Schall.
Ich bin der Hauch der Flöte, ich bin des Menschen Geist,
Ich bin der Funk‘ im Steine, der Goldblick im Metall.
Ich bin der Rausch, die Rebe, die Kelter und der Most,
Der Zecher und der Schenke, der Becher von Krystall.
Die Kerz‘, und der die Kerze umkreist, der Schmetterling;
Die Ros‘, und von der Rose berauscht, die Nachtigall.
Ich bin der Arzt, die Krankheit, das Gift und Gegengift,
Das Süße und das Bittre, der Honig und die Gall‘.
Ich bin der Krieg, der Friede, die Walstatt und der Sieg,
Die Stadt und ihr Beschirmer, der Stürmer und der Wall.
Ich bin der Kalk, die Kelle, der Meister und der Riß,
Der Grundstein und der Giebel, der Bau und sein Verfall.
Ich bin der Hirsch, der Löwe, das Lamm und auch der Wolf,
Ich bin der Hirt, der alle beschließt in Einem Stall.
Ich bin der Wesen Kette, ich bin der Welten Ring,
Der Schöpfung Stufenleiter, das Steigen und der Fall.
Ich bin, was ist, und nicht ist. Ich bin, o der du’s weißt,
Dschelaleddin, o sag es, ich bin die Seel‘ im All.

2.) Dschalal ad-Din Muhammad Rumi (übersetzt von Friedrich Rückert)
„Ums reine Licht hab‘ ich die Flamme liebgewonnen“

Ums reine Licht hab‘ ich die Flamme liebgewonnen,
Ums goldne Schwert hab‘ ich die Schramme liebgewonnen.
Aus Liebe zu dem Hirten, der mein Leben weidet,
Hab‘ ich das Glöcklein an dem Lamme liebgewonnen.
Ich hab‘ aus Liebe zu der milden Frucht am Baume
Das rauhe Moos an seinem Stamme liebgewonnen.
Ich hab‘ um deiner jugendlichen Schönheit willen
Das welke Alter deiner Amme liebgewonnen.
Weil mir der Duft des Lebens haucht aus deinen Locken,
Hab‘ ich den toten Bux am Kamme liebgewonnen.
Ich habe, weil die Perle ruht im Meeresgrunde,
Das Körnlein Sand am Meeresdamme liebgewonnen.
Weil Tau zur Liebeschminke wird im Rosenantlitz,
Hab‘ ich das Tröpflein Flut im Schlamme liebgewonnen.

  • Roland Erb gefällt das.
  • Sven Wenig ZUR KURZEN ERKLÄRUNG:

    Schon seit gefühlt ewigen Zeiten habe ich das Posten von Rumi aufgeschoben, zugeteilt für das Liken von 1.6.8.2.1. (René Schickele: „Heilige Tiere“) durch Kristian Kühn. Das hat viel damit zu tun, dass ich a) mich nicht für ein Gedicht entscheiden konnte, und b) zudem schon länger etwas zum Ghasel schreiben wollte. Kurz: manchmal fällt manches schwer, wenn man es besonders gut machen will.

    Und auch heute könnte ich so recht ins Wehklagen kommen. Nicht nur, dass ich mit meinem kleinen Hafis- Essay im Verzug bin, zudem habe ich gestern auch einen neuen Text angefangen zu Rumi, um die Wahl des zweiten Gedichts etwas zu erläutern. Ich saß – ungelogen – bis zwei Uhr nachts an dem Text. Aber ich wurde nicht fertig! Nun habe ich ein angekündigtes Projekt mehr meiner Liste zugefügt (zur Laubenlyrik und zu Hafis nun einen Text über Rumi). Wenn ich nach und nach diese Projekte verwirkliche, wäre es schon ein Erfolg.

    Aber ich möchte zunächst wenigstens die Texte posten. Ich konnte mich nicht entscheiden und poste deswegen zwei Texte. Das erste Gedicht erinnert mich sehr an die „Ikon“- Gedichte Hofmannswaldaus: zu einem übergeordneten Thema werden kühne Analogieschlüsse gezogen: mit überraschenden Effekten und vielen rhetorischen Figuren (Antithese, Oxymoron, Paradoxie scheinen des Mystikers wichtigstes Handwerkszeug). In der orientalischen Dichtung kommt den rhetorischen Sprachfiguren eine besondere Bedeutung zu. Dazu aber später mehr. Die Wahl des ersten Textes erklärt sich somit aus seinen rhetorischen Qualitäten: Die Rhetorik des Textes ist es, die mich beeindruckt.

    Den zweiten Text wählte ich gestern in der Badewanne, was viel über diesen Text aussagt. Warum? Man kennt diese Situation der Entspannung, in der einem die Ideen durch den Kopf schießen, man vielleicht Zusammenhänge plötzlich erkennt oder Ideen hat usw. – Nicht aber das Erkennen z.B. eines Argumentationsganges war bei der Wahl des zweiten Textes ausschlaggebend, sondern das Einprägen eines Klangs: mir ging schlicht die Melodie des Textes nicht mehr aus dem Kopf. „Erkennen“ somit auf eine eher intuitive Art. Melodie? – Das gehört begründet. Und ich werde es begründen, sobald ich die Zeit habe, mich wieder an das angefangene Fragment zu setzen. Beim zweiten Text ist es somit der Klang, der mich beeindruckt.

    Natürlich bezieht sich die Auswahl auf die Übersetzungen von Rückert und nicht auf die Originale. Wer – wie ich – der persischen Sprache nicht mächtig ist, der kann nur ahnen, was ihm mit den Originalen dieser Dichtung entgeht.

    Und man sollte nicht vergessen: des klassischsten deutschsprachigen Dichters vielleicht bestes (und gerade darum nicht-klassisches – aber um das auszuführen müsste ich Jahre schreiben) lyrisches Werk haben wir wesentlich dem Einfluss eines persischen Dichters zu verdanken. Mir soll es nicht um Goethes Urteil über Rumi und Hafis gehen (im „Besserem Verständnis“ urteilt Goethe über Rumi natürlich ambivalenter als über sein lyrisches „Alter Ego“ Hafis). Die Gedichte von Hafis aber, auf die sich Goethe (übrigens wesentlich vermittelt durch eine in ihrer Qualität sehr umstrittene Übersetzung Hammer-Purgstalls) beruft, wären ohne die Dichtung des Mystikers Rumi nicht denkbar. Es blieb Übersetzern vom Schlage eines Friedrich Rückert vorbehalten, uns zumindest eine Ahnung von den Qualitäten dieser Dichtung zu vermitteln und zugleich die Gedichtform des Ghasels für die deutsche Sprache fruchtbar zu machen.

  • Roland Erb Sven, nur noch eine kritzekleine Frage zu diesen herrlichen Rumi-Übertragungen von Friedrich Rückert: wo kann man sie finden, gibt es eine verlässliche moderne Rückert-Edition, die alle oder viele seiner Übersetzungen enthält?. Und – vielleicht kann uns das irgend jemand verraten, wie gut hat Rückert eigtl. das Persische beherrscht?
  • Sven Wenig Roland Erb Da Rückert ziemlich rege übersetzt hat, weiß ich nicht, ob alle seine Übersetzungen in der von mir zitierten Werkausgabe aufgenommen wurden. Aber zumindest die zitierten Texte finden sich gleich zu Beginn des „2. Bezirkes“ im 2. Band der Werkausgabe unter „Ghaselen“ und stehen so zusammen mit den eigenen Ghaselen Rückerts. Rückert muss das Persische ziemlich gut beherrscht haben und hat übrigens schon in seiner Dissertation versucht, die Wesensgleichheit des Persischen und des Deutschen zu beweisen. Zudem beherrschte er arabisch (er hat sich ja auch an eine sehr artifizielle Koranübersetzung gewagt) und hat auch aus hebräischer, indischer und chinesischer Dichtung übersetzt. Man kann Rückert wohl mit gutem Recht als Sprachgenie bezeichnen, und wenn man seine Übersetzertätigkeit kennt, sieht man auch viele der eigenen Texte Rückerts in einem anderen Licht.
  • Textkette

Being Puertorriqueña Dominicana

Die San Diego Free Press hat unter „Culture“ eine Rubrik „Books and Poetry“ und in ihr im National Poetry Month ein Gedicht des Tages. Darin vor kurzem dieses:

Sandra María Esteves is a madrina–founder– of the Nuyorican poetry movement that began operating out of East Village cafés in the 1970′s. She describes herself as a “Puerto Rican-Dominican-Boriqueña- Quisqueyana-Taino-African-American,” born and raised in the Bronx. She asks in her poem Not Neither:

Being Puertorriqueña Dominicana
Born in the Bronx, not really jibara
Not really hablando bien
But yet, not Gringa either
Pero ni portorra, pero si portorra too
Pero ni que what am I?

Schämt euch doch, ein Mensch zu sein

Kempner des Tages

Friederike Kempner (1828-1904)

Heute eine mindestens 110 Jahre alte Suada gegen die Spekulanten mit einer Aufforderung zum Mundaufmachen und und einem Aufruf, sich zu schämen.

Diplomatie im Alltagsleben
Wird die Menschheit nicht erheben.

Höret, was das Neueste ist:
Ob man trinket oder ißt,
Ob man gehet oder stehet,
Ob im Wagen, auf dem Ritt,
Die Spekulation geht mit,
Und ein jeder denkt daran,
Ob er sich was nützen kann.
Also übt man den Verstand
Und wird Selbstsucht-Spekulant.
Das ist Wahrheit, urgemein.
Schämt euch doch, ein Mensch zu sein.

On the Stairs

Knopf Poem of the day:

In 2009, Daniel Mendelsohn published new translations of the poems of the Alexandrine Greek poet C. P. Cavafy (1863-1933), including not only his published work but work that he had left finished but unpublished, or unfinished, in draft form. Cavafy’s poems, Mendelsohn reminds us, „bear witness to a deep, even scholarly interest in all phases of Greek history“; his other great subject was desire between men. A selection of Mendelsohn’s translations is now available in a Pocket Poets edition, and today we feature „On the Stairs,“ a strikingly modern poem which comes from the „Unpublished“ group. (Don’t miss the audio – read for us by J. D. McClatchy.)

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On the Stairs

As I was going down the shameful stair,
you came in the door, and for moment
I saw your unfamiliar face and you saw me.
Then I hid so you wouldn’t see me again, and you
passed by quickly as you hid your face,
and stole inside the shameful house
where you likely found no pleasure, just as I found none.

And yet the love you wanted, I had to give you;
the love I wanted – your eyes told me so,
tired and suspicious – you had to give me.
Our bodies sensed and sought each other out;
our blood and skin understood.

But we hid from each other, we two, terrified.