Johann Ohneland kauft Manhattan

1.6.8.2 yvan goll: johann ohneland kauft manhattan / johann ohneland kauft manhattan

Textkette

Ausgewählt von Sven Wenig
Ich nutze kurz eine Arbeitspause, um schnell meine „Aufgaben“ für die Textkette abzutippen. Deswegen wie immer: wer dieses „likt“, bekommt einen Autor vorgeschlagen.

Der erste Vorschlag hat mich besonders gefreut, für das „liken“ von Dylan Thomas hat mir Kristian Kühn Yvan Goll vorgeschlagen. Da ich mich nicht entscheiden konnte, gibt es zwei Gedichte: eins aus JEAN SANS TERRE und eins, dass nicht in die Sammlungen Eingang fand (beide abgetippt aus der Werkausgabe):

YVAN GOLL:
JOHANN OHNELAND KAUFT MANHATTAN

Manhattan Island: tönerner Gigant
Kaum liegt mein schwankes Schiff an deinen Quais
Zieh ich den alten Hut mit rascher Hand
Vor deinen Schauerleuten und Bankiers

Unmenschliches Gebirge meerumschlungen
Das Menschenschweiß erbaute Stein um Stein
Gebirge wo der Sodaquell entsprungen
Wo Elendsherden laut nach Äsung schrein

Der Hudson schleudert seine roten Fähren
Wie Weberschiffchen ohne Ruh noch Rast
Als ob die Fluten hier ein Teppich wären
Mit einer alten Zeitung die verblaßt

Jedoch das Gras wird welk das Eisen spröde
Hier altert jedes Ding vor seiner Zeit
In hundertzwei Etagen haust die Öde
Nach ihrer Schwester schluchzt die Einsamkeit

Bilanz des Wohlstands: da wird unbekümmert
Der Arme von der Bowery gejagt
Da liegt der Judenfriedhof halb zertrümmert
Von ahnungslosen Riesen überragt

Die Drehtür malmt im U-Bahnschacht die Menge
Zu Schicksalsbrei und zu Papiermaché
Ein Samenstrom ergießt sich durch die Gänge
Verebbt dann irgendwo auf einem Kanapee

42. Straße: hier verscheuern
Sturmhändler Trommeln Spielmann ist der Tod
Festleuchter mit Rabatt nebst ungeheuern
Versicherungen gegen alle Not

Nimm eine Hypothek auf Geistesfunken
Im Central Park ist Grashalm-Ausverkauf
Die Ironie ist stark im Kurs gesunken
Die Parzen türmen Baumwollstapel auf

Das hundertzweite Stockwerk ward erklettert
Die Jakobsleiter stieg der Mensch empor
Bis ihn die Zeitentreppe jäh zurückgeschmettert
Da fand er sich auf Hiobs Siechbett vor

Verkauft den Tod und kauft die Eumeniden
Verkauft die Freiheit und der Winde Lauf
Kauft Träume und verkauft dann die Hebriden
Verkaufen Kaufen Ankauf Kauf Verkauf

Ich kauf Manhattan für ein Augenzwinken
Verkauf es wieder für Unsterblichkeit
Denn einst wird dieser Sand hier nicht mehr blinken
Ein Fels träumt dann von City- Herrlichkeit

Du leugnetest wer deine Eltern waren
Vergaßt den gläsernen Fluß den großen Stier
Dafür verscheuert der Chinese dir Chimären
Die Negerin das Liebeselixier

Verkauft das Korn kauft Mehl im Angebot
Verkauft die Freiheit kauft das Gold zu Haufen
Verkauft die Liebe kauft die Hungersnot
Verkauft verkauft verkauft um einzukaufen

Verkauft das Kupfer kauft Mysterien ein
Verkauft das Öl kauft Kriege Kampf und Raufen
Verkauft den Traum und kauft das Lustigsein
Verkauft verkauft verkauft um einzukaufen

Aus: JEAN SANS TERRE (1944)
[zitiert nach dem 3. Band der Werkausgabe des Argon-Verlags: „Yvan Goll – Die Lyrik“; 1996] (= „Jean sans Terre achète Manhattan“; Übersetzung vom französischen Original durch Lothar Klünner und Yvan Goll)

YVAN GOLL:
JOHANN OHNELAND ENTDECKT DEN WESTPOL
Zweite Fassung

Johann entführt die Leute ohne Land
Die weder Tür noch Fenster je gekannt
Die nur ein Siechbett haben für Geburt und Tod
Und einen Schattenhund zu lecken ihre Not

Sie ziehn dahin die tausendjährige Route
Besteigen ihrer Hoffnung magre Stute
Und müssen in des Abends Fieberschwären
Von schwarzer Milch von bittrem Gras sich nähren

Sie müssen das zu grade Haus in götterlosen Gassen
Die Spukfabriken Buden der Vergessenheit verlassen
Und auch den Weisheitsbaum wo sich die Blüten drängten
Und wo sie ihre Angst und ihre Brüder henkten

Die Bäcker boten Aschenbrot den Kunden
Die Maurer haben Stein für Stein mit Blut verbunden
Die Fleischer legten ihren Kopf im Schlachthaus vor
Die Fleischersfrau fand ihre Sühne im Kontor

Den Kodex menschlicher Vernunft beherrschen sie
Am Schwanz befühln sie das gehörnte Vieh
An ihren Feuerohren die Forelle
Taxierend so das Korn das Fleisch die Felle

Wie sie erschöpft nun vom Gewitter sind
Unter dem Glutschnee und dem Mythenwind
Von skythischen Trompetenschall gehetzt
Vom Blizzard scharfer Augen ganz zerfetzt

Johann führt sie aus Zeit und Zweifel fort
Aus Pharaonentürmen manchem Eisenort
Aus Niederungen manchem schiefen Gang
Immer die lässigen Alleen entlang

Und weist ein greiser Engel ihnen Hügel an
Von denen aus den Westpol man erobern kann
Dann wird der Mondscheinvogel goldne Federn schütteln
Die Zeiten aus dem Schlummer aufzurütteln

Hier baun Westopolis die Leute ohne Land
In götterlosen Gassen ihre selbe grade Wand
Die Spukfabriken Buden die Vergessenheit umfängt
Und auch den Weisheitsbaum wo man die Freunde henkt

Im Frührot kehrt Johann allein zurück nach Osten

Aus dem Kapitel der Werkausgabe: „JEAN SANS TERRE – In Sammlungen nicht enthaltene Gedichte“ [zitiert nach dem 3. Band der Werkausgabe des Argon-Verlags: „Yvan Goll – Die Lyrik“; 1996] (= „Jean sans Terre découvre le Pôle Ouest – Deuxième version“; Übersetzung vom französischen Original durch Lothar Klünner und Yvan Goll)
10. Februar 2014

‪Kristian Kühn und ‪Michael Gratz gefällt das.

Sven Wenig: Ich glaube übrigens, dass Claire Goll mit der Goll-Affäre nicht nur Paul Celan, sondern vor allem sich selber geschadet hat. Obwohl ihre Übersetzungen vom Werk ihres Mannes teils großartige Sprachkunstwerke sind, habe ich lieber auf jene Übersetzungen zugegriffen, die Yvan Goll selbst zu verantworten hat. Hierzu ein spannender Artikel aus dem „Cicero“: ‪http://www.cicero.de/salon/ausloeschung-auf-raten/47087safe_image.php.jpg ¬
Die Goll-Affäre – Auslöschung auf Raten 
www.cicero.deSeit 1953 sah sich Paul Celan den Plagiatsvorwürfen der Witwe seines Freundes Yvan Goll ausgesetzt: eine Affäre mit Folgen