Jedes Sehen will gelernt und geübt sein. Man sieht bloß, was man unterscheidet, und man unterscheidet nur, wofür man sich einmal interessierte und was man mit Namen zu nennen weiß.
Carl Spitteler
(1845 – 1924)
Jedes Sehen will gelernt und geübt sein. Man sieht bloß, was man unterscheidet, und man unterscheidet nur, wofür man sich einmal interessierte und was man mit Namen zu nennen weiß.
Carl Spitteler
(1845 – 1924)
Carl Spitteler
Die Ballade vom lyrischen Wolf
Frühlingslüfte lispelten im Haine,
Und ein Wolf im Silbermondenscheine,
Aufgeregt von lyrischen Gefühlen,
Strich, in seinem Innersten zu wühlen,
Melancholisch durch Gebirg und Strauch,
Liebe spürt er, etwas Weltschmerz auch.
Davor mög uns Gott der Herr bewahren:
Nachtigallenseufzer ließ er fahren.
Eine Rose hielt er in den Knöcheln,
Schwanenlieder in den Kelch zu röcheln,
Und mit honiglächelndem Gemäul
Flötet er ein schmachtendes Geheul.
Orpheus hörte diese Serenade.
„Herr Collega“, bat er ängstlich, „Gnade!
Nutzlos quälst und quetschest du die Kehle,
Denn die Bosheit bellt dir aus der Seele.
Und mit einem Herzen voll von Haß
Bleibe, Bestie, ferne dem Parnaß.
Zwar auf Tugend mag die Kunst verzichten,
Liederliche sieht man Lieder dichten,
Aber Drachen mit Musik im Rachen –
Liebster, das sind hoffnungslose Sachen.
Aller schönen Künste weit und breit
Grundbedingung ist Gutherzigkeit.“
Je nun, es ist im Menschenvolk einmal so Brauch,
Vor irgendwem im Staub zu liegen auf dem Bauch.
Carl Spitteler, aus: Olympischer Frühling (1905)
Carl Spitteler (1845 – 1924), Schweizer Dichter und Romanautor, Nobelpreisträger für Literatur 1919 (verliehen 1920)