Der Reim

Franz Werfel

Der Reim
 
Der Reim ist heilig. Denn durch ihn erfahren
Wir tiefe Zwieheit, die sich will entsprechen.
Sind wir nicht selbst mit Aug,-Ohr,-Lippenpaaren
Gepaarte Reime ohne Klang-Gebrechen?
 
Das Reimwort meinst du mühsam zu bestechen,
Doch wird es unversehens offenbaren,
Wie Liebeskräfte, die zerspalten waren,
Zum Kuss des Gleichklangs durch die Fernen brechen.
 
Allein nicht jede Sprache hat geheiligt
Den reinen Reim. Wo nur sich deckt die Endung,
Droht leeres Spiel. Der Geist bleibt unbeteiligt.
 
Dieselben Silben lassen leicht sich leimen.
Doch Stamm‘ und Wurzeln spotten solcher Blendung.
Im Deutschen müssen sich die Sachen reimen.

Kuhreiher

1.9.4.4.2 les murray: kuhreiher (cattle egret)

Textkette

Ausgewählt von Michael Gratz

Weil mir ein Gedicht von Martina Hefter gefiel, trug mir Kerstin Becker auf, ein Gedicht des australischen Dichters Les Murray auszusuchen. Ich schlich eine Weile um das Gedicht „Sanskrit“ herum, aus dem bibliophilen Band Heilige Kühe / Holy Cows (Übersetzung Margit Lehbert. Verlag  Thomas Reche / Edition Rugerup, 2006). Schließlich entschied ich mich für ein anderes Gedicht aus dem Buch.

Ich schreibe hier nur die Übersetzung ab (das Buch ist zweisprachig).

Kuhreiher

Unsere schlaftrunknen Gefährten, rotbraun, grau,
waten durch ihr Weiden, und sirrende Leben
schwärmen zersplitternd hoch und entschweben.
Unsere schnellen Schnäbel pinzettieren sie genau,
die geworfelten Knusperchen, zirpenden Früchte,
Fette der Lüfte – wie feilschen sie nieder im Schwirren,
voll Bitten und Zischen, Sorgen und Zirren,
das weiße Gefieder von Scharen geriffelt, die flüchten.
Um uns schattenhaft Leben, das Totes verschlingt,
doch Leben nährt unser Leben: Kampf ist Geschmack,
Stiche die Würze. Zuckende Körper spielen den Takt
zum Kieseltanz meines Kropfes. Ich schreite beschwingt,
wo Hunde am Darm eines blökenden Kalbes zerrten.
Vielleicht gibts irgendwo Wesen, die alt werden.

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Das vierzehnzeilige Gedicht reimt im Stil des englischen Sonetts abba cddc effe gg. Der Reim des Originals und der Übersetzung umspielt die (im Deutschen oft fetischisierte) Reimreinheit an mehreren Stellen assonantisch bzw. mit schwachen (tonlosen) Reimsilben*. Auch das Versmaß umspielt die klassische Form des Zehnsilbers. Die Übersetzung findet auch gute Lösungen für verschiedene Klangeffekte. Das Gedicht klingt gut und „leuchtet mir ein“. Es ist auch in der inneren Gliederung ein Sonett mit aller Spannung von Form und Freiheit, derer sich die Briten schon in Shakespeare Zeit bedienten. Mir gefällt, daß das Schlußcouplet nur formal (im Reim) vollständig ist, weil die eigentliche Pointe in der sentenzhaften Schlußzeile statt hat. Im  Original: „Somewhere may be creatures that grow old.“

*) Verse 6/7 des Originals reimen nur auslautend und mit schwach assonantischem Anklang down / stridulation. Die Übersetzung findet an anderer Stelle, für das abschließende Verspaar vergleichlich Kalbes zerrten / alt werden.