Bienenspäßchen 6

„Bienenspäßchen“ bezieht sich auf ein lateinisches Gedicht des niederländischen Dichters Daniel Heinsius (1580-1655), in dem fast jede Zeile ein eigenes Metrum hat. Es findet sich im Original und in der Übersetzung von Harry C. Schnur in der Reclamausgabe „Lateinische Gedichte deutscher Humanisten, 1. Aufl. 1966, 3. durchges. u. ergänzte Aufl. 2015. Ich benutze es hier für den Spaß, jeden Tag ein Häppchen europäischer Dichtung zu präsentieren, zugleich ein Crashkurs* in klassischer Metrik.

Vers 6:

tenerae cives

Deutsch:

ihr bewohnt, Kleinchen,

Heute ist es zunächst einfach. tenerae cives

uu– ––

Ein Anapäst, uu–, gefolgt von einem Spondeus, ––. Im Deutschen gab und gibt es die Meinung, daß es keine Spondeen oder Spondäen geben könne. Aber es kommt immer auf das bewußt oder unbewußt zugrundegelegte System an. Bei der Übertragung von Längen und Kürzen auf betont und unbetont könnte man KLEINchen sprechen, das kommt der Neigung unserer Sprache zum Verschlucken von Endungen entgegen. Wenn man sich aber beim lauten Aussprechen beobachtet, fällt wohl auf, daß es nicht einfach ist, „chen“ so wegzudrücken. Zumal wenn man die intonatorischen und semantischen Zusammenhänge des Schachtelsatzes beachtet, es muß ja weitergehen, das muß ich jetzt schon mit ausdrücken.

Das Beispiel zeigt auch schon einige weitere Probleme beim Anwenden einer Fußmetrik auf deutsche Verse. In den besseren Verslehren steht, daß im Altgriechischen Längen und Kürzen quasi natürlich wahrnehmbar waren und daß schon die Römer Mühe hatten, das System auf ihre Sprache anzuwenden. Es ging nicht ohne ein gewisses Pressen. Füg dich, oder ich freß dich! Sie haben also die Aussprache ihrer Verse dem griechischen Schema angepaßt. So auch verstärkt im Deutschen. Ohne vorher im Kopf existierendes Schema keine „korrekte“ Aussprache. Wenn man nicht auf den nebenstehenden Originaltext schaut, kann man zwanglos so sprechen:

ihr bewohnt, Kleinchen,

oder mit vier Hebungen

ihr bewohnt, Kleinchen,

und keine Regel der Welt kann uns daran hindern. Das wäre dann ein Amphimacrus oder Creticus

–u–

(das Gegenstück zum Amphibrachus oder Amphibrachys: u–u), gefolgt von einem Spondäus oder Trochäus.

(Überhaupt bin ich der Meinung, daß 200+x Jahre nach Klopstock Füße als Bausteine deutscher Verse nur dann sinnvoll einsetzbar sind, wenn der Autor beim Entstehen in Füßen gedacht hat. Das gilt also auch für das gelehrte Spiel des Daniel Heinsius und seine metrische Eindeutschung. Ansonsten kann man Silben zählen, Wörter, Hebungen oder Takte, aber keine Füße. Metrische Struktur in neueren deutschen Versen zu bestimmen heißt nicht, ein allgemeingültiges System/Raster über die Verse legen, sondern produktionsästhetisch herausfinden, nach welchen Prinzipien der Vers gebaut wurde. Es wäre schlicht falsch, Klopstocks Wortfüße nach einer „herkömmlichen“ Fuß- oder Taktmetrik zu messen.)**

*) Wohlgemerkt: Crashkurs, den ich nehme, nicht gebe!

**) Viel gebrüllt zwischen zwei kleinen Klammern!

Bisheriger Gesamttext

Mellificae volucres,
quae per purpureas rosas
violas amaracumque
tepidique dona veris
legitis suave nectar,
tenerae cives

Deutsch von Harry C. Schnur:

Honigerzeuger im Flug,
die aus Rosen ihr, dunkelrot,
die aus Majoran und Veilchen
und des lauen Frühlings Gaben
sammelt ein den süßen Nektar –
ihr bewohnt, Kleinchen,

Benutzt

Als ich von Klopstock erfuhr, daß der Trochäus
auf einen antiken Tanzschritt zurückzuführen sei,
führte ich ihn zurück und schämte mich,
Metren benutzt zu haben.

Tanze! (…)

Elke Erb, aus: Andreas Koziol (Hrsg.): Abriß der Ariadnefabrik. Berlin: Galrev, 1990, S.198 (zuvor in: Ariadnefabrik 5/1988)