Curva minore

Salvatore Quasimodo, Curva minore/ Der kürzere Bogen

Der kürzere Bogen

Laß mich, oh Herr, daß ich nicht höre,
versunkene Jahre schweigend mich entblößen,
daß alle Pein in freien Fluß sich wandelt:
der kürzere Bogen
des Lebens verbleibt mir.

Mach mich zu Wind, der selig weht,
zu Gerstensamen oder Aussatz,
der sich in vollem Werden zeigt.

Und sei es leicht, dich zu lieben
als Pflanze, die ihrem Licht entgegenwächst,
als Wunde, die das Fleisch zerfrißt.

Ich versuche ein Leben:
ein jeder wankt ermattend
auf der Suche.

Du verläßt mich wieder: allein bin ich
im Schatten, der zum Abend sich weitet,
und keine Pforte öffnet sich dem süßen
Verströmen des Blutes.

Deutsch von von Gianni Selvani

Curva minore

Pèrdimi, Signore, ché non oda
gli anni sommersi taciti spogliarmi,
sí che congi la pena in moto aperto:
curva minore
del vivere m’avanza.

E fammi vento che naviga felice,
o seme d’orzo o lebbra
che sé esprima in pieno divenire.

E sia facile amarti
in erba che accima alla luce,
in piaga che buca la carne.

Io tento una vita:
ognuno si scalza e vacilla
in ricerca.

Ancora mi lasci: son solo
nell’ombra che in sere si spande,
né valico s’apre al dolce
sfociare del sangue.

Aus: Salvatore Quasimodo, Das Leben ist kein Traum. Ausgewählte Gedichte Italienisch/ Deutsch. Übertragung und Nachwort von Gianni Selvani. München Zürich: Piper 1987 (Neuausgabe), S. 22f.

Ein Gedicht, bei dem ich mich erinnere, wo ich es las. Es war in Venedig, ein Hotel in einem Renaissancepalazzo, Frühstück im überwachsenen Innenhof mit viel Caffè, ich hatte das Taschenbuch von Quasimodo dabei und las ein halbes Stündchen. Curva minore, das stimmte schon damals, und ist solange her.